Britta Wyss Bisang, unsere nun ausscheidende Chief Sustainable Supply Chain Officer, erklärt, warum und wie sich die Zertifizierung entwickelt und spricht mit Vorstandsmitglied Annemieke Wijn über ihre persönliche Reise mit UTZ und der Rainforest Alliance.
F: Britta, du arbeitest seit 2003 im Bereich der Zertifizierung und bist seit 2007 bei UTZ, die ja 2018 mit der Rainforest Alliance fusioniert sind. Mit all dieser Erfahrung und vor dem Hintergrund der aktuellen soziökonomischen Lage, der Covid-19-Krise und einer bevorstehenden Rezession: Was glaubst du, wie sich die Welt der Zertifizierung in den nächsten fünf bis zehn Jahren verändern wird?

A: Viele Menschen sehen in der Covid-19-Krise zu Recht auch eine Chance für eine nachhaltigere Wirtschaft. Die Frage ist nur, wie das umgesetzt werden kann. So muss die landwirtschaftliche Produktion so gestaltet werden, dass sie ressourcenschonend mit unserem Planeten umgeht, die Menschenrechte anerkennt und gleichzeitig komplett auf Abholzung verzichtet. Die Zertifizierung ist dabei nur ein Instrument, um dies zu erreichen. Allerdings müssen wir das Engagement und die Anstrengungen aller Beteiligten an der Lieferkette massiv steigern. Ich gehe auch fest davon aus, dass Transparenz und Rückverfolgbarkeit entlang der Lieferkette künftig noch wichtiger werden als sie es heute schon sind.
Natürlich gibt es auch Entwicklungen, die diese Anstrengungen boykottieren. Die bevorstehende Rezession wird den Druck, zu niedrigsten Preisen einzukaufen, weiter erhöhen. Um einen Wettlauf nach unten zu verhindern und die sozialen und ökologischen Kosten der landwirtschaftlichen Produktion zu internalisieren, sind starke Koalitionen zwischen Regulierungsbehörden, Privatwirtschaft und NGOs wie der Rainforest Alliance erforderlich. Transparenz wird entscheidend sein, um alle Beteiligten zur Verantwortung zu ziehen.
Das sind natürlich alles keine Neuigkeiten. Um ehrlich zu sein, haben die landwirtschaftlichen Erzeuger auch ohne Pandemie mit vielen Unsicherheiten zu kämpfen, beispielsweise den zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und den volatilen Märkten. Für eine nachhaltigere Wirtschaft sollte daher die Internalisierung sozialer und ökologischer Kosten in der landwirtschaftlichen Produktion wirklich zur Selbstverständlichkeit werden.
F: Wie hat sich die Zertifizierung in den letzten 20 Jahren entwickelt?

A: Die Zertifizierung hat einen langen Weg zurückgelegt, um Verbraucher und Erzeuger miteinander zu verbinden. Inzwischen ist es für uns selbstverständlich, dass Mainstream-Marken Nachhaltigkeitsverpflichtungen haben, aber vor 20 Jahren war das absolut nicht der Fall. Ich glaube, dass ohne Zertifizierung – ohne die ständige Suche nach einem pragmatischen, wirkungsvollen und skalierbaren Modell – keiner der Sektoren, in denen wir arbeiten, in Bezug auf die Nachhaltigkeit dort wäre, wo er heute ist.
Auch die Audits haben sich gewaltig verändert. Als ich vor mehr als 15 Jahren selbst noch Auditorin war, haben wir einen sehr pragmatischen Ansatz verfolgt. Das gesamte Audit bestand nur aus visueller Inspektion, Dokumentenprüfung und Interviews. Heute gibt es eine vierte Säule: digitale Daten. Diese Säule wird sowohl für den Auditor als auch für den Erzeuger als Informationsquelle immer wichtiger
F: Warum will die Rainforest Alliance die Zertifizierung „neu gestalten“? Welche neuen Ansätze verfolgt sie?
A: Zertifizierung hat erreicht, was nur wenige andere Maßnahmen geschafft haben. Es handelt sich um ein komplett skalierbares Modell, das endlich Transparenz in die landwirtschaftlichen Lieferketten gebracht hat- und gleichzeitig Erkenntnisse liefert und dadurch die notwendigen Verbesserungen ermöglicht. Aber wir müssen Zertifizierung weiterentwickeln, damit sie noch wirkungsvoller wird: Sie muss datengetriebener, verbesserungsorientierter und noch enger auf die Bedürfnisse der Produzenten zugeschnitten werden. Indem wir die Zertifizierung neu gestalten, fördern wir das Konzept der gemeinsamen Verantwortung von Farmern und Unternehmen.
Mit der Hilfe von Daten können Unternehmen erkennen, wo mögliches Verbesserungspotenzial einer gesteigerten Nachhaltigkeit liegt und gemeinsam daran arbeiten. Es gibt einige Bereiche, in denen diese Investitionen sinnvoll sind: Beispielsweise für ein solideres System zur Bekämpfung von Kinderarbeit oder in eine Strategie, um die Artenvielfalt zu sichern. Aktuell tragen die Erzeuger noch immer die Hauptlast. Ganz besonders in Sektoren, in denen die Weltmarktpreise extrem niedrig sind, wie bei Kakao oder Kaffee.
Außerdem können uns die gewonnenen Daten dabei helfen, finanzielle Unterstützung von Institutionen zu erhalten und Zertifizierung noch stärker mit den Programmen in den Regionen und Kommunen zu verknüpfen.
F: Welche Rolle spielen technologische Innovationen bei dieser Neugestaltung?

Technologie spielt eine riesige Rolle. Wir entwickeln zum Beispiel mobile Trainings-Apps für die Farmer oder nutzen Satellitenbilder, um mögliche Abholzungen auf Karten detailliert darstellen zu können. Dadurch, dass wir Farmen bestimmte GPS-Punkten zuordnen können, erkennen wir, wenn sich Anbauflächen in Naturschutzgebiete ausbreiten. Auch das Risiko von Kinderarbeit kann mit Hilfe dieser Technologie besser eingeschätzt werden. Darüber hinaus sind GPS-Koordinaten auch die Grundlage, um die „ersten Meter“ der Produktion zurückzuverfolgen, vom Kleinfarmer bis zum Zertifikatsinhaber. Die Covid-19-Pandemie beschleunigt die Nutzung dieser Technologien für digitale Schulungen, Remote-Audits und datengestützte Gutachten – eine tolle Sache.
Aber Innovation hört nicht bei der Technologie auf. Ich hoffe, dass Nachhaltigkeitszertifizierung zu einer Art Werkzeugkasten wird, der neue Innovationen – digitale und nicht-digitale – enthält, aus denen die Erzeuger individuell wählen können.
F: Es wird ja häufig behauptet, dass Erfolg durch die Faktoren Zeit und Umfang definiert wird. Wie sieht die ideale Balance aus?
Das kommt immer auf die jeweilige Perspektive an. Jedes Programm braucht Vorreiter, Farmer und Marktteilnehmer, die bereit sind, Neues auszuprobieren, Lösungen zu schaffen und Risiken einzugehen. Meiner Ansicht nach ist es jedoch entscheidend, dass Zertifizierung zu echten Veränderungen im Sektor beiträgt und nachhaltige Praktiken fördert, die, sobald der Wendepunkt erreicht ist, zur Selbstverständlichkeit werden.
F: Warum ist es so wichtig, immer weiter daran zu arbeiten und alles mit Partnern vor Ort umzusetzen, wenn doch einige den Eindruck haben, dass der Effekt nicht groß genug ist?
A: Wenn man von einem komfortablen Büro in Europa oder den USA aus arbeitet, ist es leicht zu sagen, dass vor Ort keine große Wirkung erzielt wird. Wenn das jedoch dazu führt, ein Gebiet oder einen Erzeuger zu verlassen, ist das für die Betroffenen verheerend. Wir arbeiten in Lieferketten, die vielen sozialen und ökologischen Herausforderungen gegenüberstehen, von struktureller Armut und Kinderarbeit bis hin zur Abholzung und den deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels. Ich glaube, es ist wichtiger, dort zu arbeiten, wo es schwierig ist. Deshalb ist es immer eine Herausforderung, Veränderungen voranzutreiben. Das bedeutet nicht, dass wir den Status quo akzeptieren sollten – oder jemals akzeptieren werden. Wir müssen uns über das langfristige Ziel im Klaren sein und dann realistische Schritte definieren, wie wir es erreichen können.
Das Siegel der Rainforest Alliance steht für positiven Wandel und Fortschritt. Positive Veränderungen können von Pflanzenkultur zu Pflanzenkultur, von Land zu Land und von Farmer zu Farmer sehr unterschiedlich aussehen. Manchmal gibt es einen Rückschlag – und das ist okay, solange wir transparent darüber kommunizieren und solange wir nicht aufgeben, sondern gemeinsam mit den Farmern daran arbeiten, wie wir die Probleme bewältigen können.
F: Du verlässt die Rainforest Alliance Ende Juni 2020. Jetzt möchte ich dich zuerst einmal fragen: Gibt es etwas, das du nicht vermissen wirst?

A: Immer mal wieder werden Vergleiche zwischen den freiwilligen Nachhaltigkeitsstandards unterschiedlicher Qualität und Tragweite gezogen. Oft sind solche Vergleiche übertriebene Vereinfachungen, die ausschließlich auf theoretischer Recherche beruhen und keine eigenen Beobachtungen, Besuche vor Ort oder lokalen Kontext miteinbeziehen. Sie sind meist gut gemeint… Aber ich werde es sicher nicht vermissen, diese Berichte zu lesen und darauf zu antworten!
F: Und was wirst du am meisten vermissen?
A: Die Energie, die ich jedes Mal gespürt habe, wenn ich einen Farmer auf dem Feld traf, der stolz seine Geschichte erzählt. Aber ich werde auch meine inspirierenden und talentierten Kollegen und die angeregten Diskussionen mit Partnern in der Tee-, Schokoladen-, Kaffee- oder Bananenindustrie vermissen. Und auch das Vogelgezwitscher in den Tropen und die hupenden Taxis in den Straßen New Yorks werden mir morgens beim Aufwachen fehlen.
F: Was möchtest du der Rainforest Alliance noch mit auf den Weg geben?
A: Ich wünsche der Rainforest Alliance weiterhin den Mut, Entscheidungen zu treffen. Um den Effekt von Nachhaltigkeit zu verstärken, müssen wir akzeptieren, dass wir eben nicht alles können, zumindest nicht auf einmal. Zertifizierung bezieht sich auf alle Säulen der Nachhaltigkeit und setzt daher eine ehrgeizige erste Vorgabe, die die Farmer erreichen müssen. Wenn wir jedoch über diese Messlatte hinausgehen, wenn wir neue Instrumente entwickeln, müssen wir harte Entscheidungen treffen. Was ist die nächste Herausforderung, die es zu bewältigen gilt? Wo kann die Wirkung verstärkt werden? Die Entscheidungen werden regionsspezifisch sein; meistens werden sie schwierig sein, weil es immer jemanden geben wird, der mit der Wahl nicht einverstanden ist. Aber wie sagt man so schön: Wenn es nicht wehtut, ist es keine Entscheidung.
F: Vielen Dank, Britta! Und nochmals alles Gute und viel Erfolg für deine zukünftigen Projekte!